In Hameln war einst eine große Mäusenot.
Die Mäuse fraßen die Keller leer und waren so dreist geworden,
daß sie beim Mittagessen in Schlaren über den Tisch liefen.
Da ließ sich eines Tages ein wunderlicher Mann sehen. Er
hatte einen Rock von vielfarbigem Tuch an und gab sich für
einen Rattenfänger aus. Er versprach, gegen einen gewissen
Lohn die Stadt von allen Ratten und Mäusen zu befreien.
Der Bürgermeister und der Rat der Stadt versprachen ihm
diesen Lohn. Sogleich ging der Rattenfänger auf die Straße
hinaus, zog ein Pfeifchen heraus und pfiff. Immer pfeifend
ging er vom Markt durch die Hauptstraße. Wo eine Seitengasse
mündete, stand er und pfiff hinein. Es dauerte nur eine
Minute, da kamen aus allen Häusern und Straßen die Mäuse
heraus. Sie sammelten sich um den Mann und folgten ihm in
dichtem Zug. Am Tor machte er halt und pfiff noch ein und
das andere Mal. Da kamen die letzten Nachzügler herbei.
Als er dachte, daß nun keine Ratte und keine Maus mehr in
den Häusern zurückgeblieben war, ging er durchs Tor hinaus.
Der ganze Haufe folgte ihm. Immer pfeifend ging er über
die Wiese an den Weserfluß. Er zog Schuhe und Strümpfe aus,
hing sie sich über die Schulter und trat in das Wasser.
Alle Tiere folgten ihm und ertranken.
Jetzt aber, da die Bürger von ihrer Plage
befreit waren, fingen sie an, dem Mann von dem Lohn abzuhandeln.
Schließlich stellten sie sich zornig über seine Weigerung
und wiesen ihn ganz ohne Lohn aus der Stadt. Der Mann sagte
kein Wort. Er verließ den Saal und trat auf den markt. Als
er da unten stand, sah er kurz nach rechts und links, zog
ein Pfeifchen heraus und pfiff. Genau so, wie er vorher
den Mäusen gepfiffen hatte. Diesmal aber kamen aus allen
Häusern die Kinder heraus. Sie faßten sich bei den Händen
und eilten und sammelten sich im Zug hinter dem Mann. Er
schritt die Hauptstraße hinunter und, gerade wie beim ersten
Mal, machte er an allen Seitengassen halt und pfiff hinein.
Von überall her kamen die Kinder, Knaben und Mädchen vom
vierten Jahr an, herzu. Auch die schon halb erwachsene Tochter
des Bürgermeisters. Der ganze Schwarm, mit der Pfeife singend
und tanzend, ging mit dem mann zum Tor hinaus. Er führte
sie an einen Berg, vor den er hinschritt, als ob dort eine
Tür sei. Und wirklich öffnete sich der Berg und der Mann
mit allen Kindern verschwand darin.
Dies hatte ein Kindermädchen gesehen,
welches mit einem Kind auf dem Arm von fern nachgezogen
war. Sie kehrte um und erzählte von dem Zug in der ganzen
Stadt. Die Eltern liefen haufenweise vor alle Tore und suchten
ihre Kinder. Die Mütter fingen an zu schreien. Es wurden
sofort Boten geschickt in alle Richtungen, in alle Täler,
in alle Städte. Aber nirgendwoher kam von den Kindern eine
Nachricht. Es waren im ganzen hundertunddreißig verloren.
Zwei sollen sich verspätet haben und zurückgekommen sein.
Davon aber war das eine blind, das andere stumm. Sodaß das
blinde den Ort nicht zeigen konnte und nur erzählen, wie
sie dem Spielmann gefolgt waren, das stumme den Ort zeigen,
aber nichts dazu erklären konnte. Ein Knäblein war im Hemd
mitgelaufen und wurde von seiner älteren Schwester zurückgeschickt,
schnell seinen Rock zu holen. Dadurch entging es dem Unglück.
Denn als er zurückkam, waren die andern schon im Berg verschwunden
und der Berg wieder geschlossen.
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